9. November 1989: Historische Erbsensuppe

Der 9. November, der Deutschen Schicksalstag Nummer 1, fiel 1989 auf einen Donnerstag. Was das sonst für ein Tag oder wie das Wetter war, habe ich vergessen. Unvergesslich, wie ins Hirn gemeißelt, sind mir dafür der 10. November und 25. Dezember 1989.

Das Wetter am Freitag nach dem historischen Datum war November pur. Alles grau in grau, tief hängender Himmel, windig, mit hie und da ein paar schauerliche Nieselregeneinlagen. Insgesamt einfach kühl, feucht und ungemütlich. Dafür tobte und brodelte die Volksseele im wahrsten Sinne des Wortes volksfestmäßig quasi am Siedepunkt.

„Waaaahnsinn!“ Plötzlich waren die Ossis da.

Nicht irgendein paar mehr oder weniger, sondern gefühlt alle. Jedenfalls wälzten sich von einem Tag auf den anderen Unmassen DDR-Bürger mit den obligatorischen Einkaufsbeuteln oder in Form von Trabbikonvois durch die Stadt oder standen in langen Schlangen vor den Banken an, um den Begrüßungshunderter abzuholen. Auch auf dem Hermann-Ehlers-Platz in Steglitz stand an diesem Nachmittag eine lange Menschenschlange. Allerdings nicht vor einer Bank, sondern vor einer Gulaschkanone. Den herrlich appetitlichen Geruch von der im Kessel dampfenden Erbsensuppe habe ich gewissermaßen noch heute in der Nase. Und da ich für einen gepflegten Teller Erbsensuppe jedes Steak, Kaviar oder Lachs sowieso, und alles andere liegen lasse, hatte ich mich wie von selbst beziehungsweise triebgesteuert dazu gestellt. Umringt von einer Lehrerin aus „Oberschweineöde“ (sagte die tatsächlich, meinte Oberschöneweide, was einem Wessi natürlich erst erklärt werden musste) einem Buchhändler, einem Charité-Arzt und vielen weiteren Berlinern von der bislang anderen Seite der Mauer. Und alle verstanden wir uns prächtig, lachten und freuten uns auf eine lecker Erbsensuppe und auch noch gratis. Waaahnsinn!

Als ich nach etwa einer Viertelstunde endlich und ziemlich durchgefroren vor dem dampfenden Kessel stand, rümpfte der dicke Typ mit der Suppenkelle schwenkend wichtigtuerisch seine Säufernase und sprach: „Sie sind doch keener von drüben, det seh ick doch!“ Na und, macht det der Suppe wat?, fragte ich etwas irritiert zurück. „Na meen‘ Se vielleicht, wir stehn hier aus Daffke, um unsere eigenen Leute durchzufüttern!?“ Der Mann war offenbar so fest in dem Wahn gefangen, die armen Brüder und Schwestern aus der Noch-Ostzone vor dem nahen Hungertod retten zu müssen, dass er selbst mein Angebot, die Erbsensuppe auch locker bezahlen zu können, schroff wie eine Art unsittliches Angebot zurückwies. Ich war platt, meine Wartegenossen peinlich berührt. Die Lehrerin wollte mir sofort ihre Suppe überlassen und ein paar andere auch. Das muss sie wohl gewesen sein, die viel gepriesene und zwischenzeitlich leider weitgehend im Gesamtdeutschen verflüchtigte Solidarität der bis dato Eingemauerten. Mir aber war der Appetit gründlich vergangen.

Es gab aber auch noch etwas andere, einnehmendere Ossis, wie ich am ersten Weihnachtsfeiertag, 25. Dezember 1989, am Brandenburger Tor feststellen durfte. Die DDR war im Grunde schon „gegessen“ und in einer schier unübersichtlichen, durch eine Mauerlücke nach Ostberlin drängenden Westberliner Menschenmenge eingekeilt, konnte ich gerade noch aus den Augenwinkeln wahrnehmen, wie eine Art Greifkommando in Marsch gesetzt wurde, um mich – tatsächlich nur mich allein – aus der Menge zu fischen und freundlich aber bestimmend ins Grenzerhäuschen zu bitten. Bis heute ist mir völlig schleierhaft, wie und woran die Vopos so zielsicher erkannt hatten, dass mein Behelfsmäßiger Personalausweis abgelaufen war und sie mir mithin zehn D-Mark für das Ausstellen einer „Identitätsbescheinigung“ abknöpfen konnten. Aber das Wissen, der DDR damit auch nicht mehr geholfen zu haben, sowie dieses DDR-Grenzdokument als Andenken mit historischem Wert und Brandenburger-Tor-Stempel war den Zehner im Nachhinein allemal wert. Nur um die Erbsensuppe tut es mir leid. HDK

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