Birgit Helmlinger 12von12 im April 2024: Von der Magie alter Friedhöfe

Überall, wo ich hinkomme, besuche ich den Friedhof. Warum ich das tue? Weil mich Friedhöfe anziehen. Ich mag die Stimmung. Hier bin ich unter vielen Menschen, ohne Stimmengewirr, Geschrei oder Gelächter. Das ist einmalig. Es sind Orte der Ruhe und Besinnlichkeit. Einer der ganz wenigen Rückzugsorte innerhalb der brausenden Stadt. Ohne Hunde, deren Kot und Fahrzeuge.

Birgit Helmlinger: Der Friedfhof ist für mich ein mystischer Ort.
Bild 1: Mystische und zauberhaften Momente

Niemals ist ein Friedhof für mich ein Ort, an dem ich Angst habe, der bedrohlich wirkt. Es kann mystische, zauberhafte Momente geben, bei trübem Licht im November beispielsweise. Wenn der Wind in den Blättern der alten Bäume rauscht, ist das wie das Wispern der Stimmen derer, die hier liegen.

Steinerne Amphore auf dem Matthäus-Friedhof

Meine Fantasie wird angeregt von den alten Steinen, Inschriften und Statuen. Ich denke mir Geschichten aus. Ich stelle mir bei jedem Grab, das ich näher betrachte, vor, was für ein Leben, der
Mensch, der hier begraben liegt, wohl geführt haben mag. Welche Ereignisse haben sein Leben geprägt? War es ein liebevoller Mensch? Was zeichnete ihn aus? Woran mag die Person gestorben sein? Was war das Wichtigste in ihrem Leben? Wer denkt heute noch an sie? Ist die Pracht des Grabes relativ zum menschlichen Wert des darin Begrabenen oder nur Ausdruck der finanziellen Möglichkeiten seiner Familie? Wie war dieses Leben vor 80, 100 oder 150 Jahren? Was waren damals die Sorgen oder die Freuden der Menschen? War das anders als heute?

Wie wir unsere Trauer zum Ausdruck bringen, hat sich über die Jahrhunderte verändert.

Man findet nur noch selten eine Familiengruft auf Friedhöfen
Bild 3: Imposante Gruft

Beeindruckende Familiengruften mit aufwendigen Figuren, Reliefs und Goldschrift leistet sich heute kaum mehr jemand.

Erdbestattungen sind in der Minderheit. Schlichte Steine oder Kreuze werden bevorzugt. Oftmals wünschen wir uns heute eine anonyme Bestattung. Kaum mehr ein Sinnspruch ist auf den modernen Gräbern zu finden. Aus unserer Bestattungskultur Individuelles abzuleiten, wird
Friedhofsbesuchern in 100 Jahren schwerfallen. Was werden sie über uns denken?

Es ist schon beeindruckend, welch großartigen Häuser aus Stein für gestorbene Familienangehörige gebaut worden sind!
Bild 5: Imposante Familiengruft

Auch in der Gründerzeit oder davor waren es die reichen Leute, die sich aufwendige Beisetzungen leisten konnten. Sie haben sich selbst Denkmale gesetzt.

Die ganz Großen haben sich wohl selbst ein Denkmal gesetzt
Bild 5: Die Vermögenden haben sich selbst ein Denkmal gesetzt (hier: ein Richter)

Die ganz Großen (oder die, die wir gemeinhin dafür halten), wurden in den Geschichtsbüchern verewigt.

Grabstellen der Vergangenheit liebevoll umrandet. Birgit Helmlinger gibt den Blick auf den Totenkult frei, wie er sehr lange gepflegt worden ist.
Bild 6: historische Grabbegrenzung

Was passiert mit allen Anderen? Sie werden wohl vergessen, von ihnen bleibt keine Spur. Sie verschwinden in den Tiefen der Zeit. Das kann auch tröstlich sein, denn auch das Böse, das sie in die Welt gesetzt haben mögen, versinkt in der Vergangenheit.

Das vergessene Totenhaus vom Alten St. Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg:

Friedhöfe sind für mich auch ein Ort der Dankbarkeit, dass ich heute und jetzt leben darf und die Schönheit dessen, was die Natur und die Menschen hervorgebracht haben, bewundern kann.

Friedhöfe sind für Birgit Helmlinger ein Ort des Friedens und der Besinnlichkeit. Der in Stein gegossene Engel lädt dazu ein.
Friedhöfe als Orte des Friedens und der Besinnlichkeit

Manche Menschen gehen Wald baden. Ich komme zur Ruhe, wenn ich Friedhöfe besuche. Sie wirken auf mich inspirierend und friedlich.


Fotos und Text: Birgit Helmlinger im April 2024
Alle Fotos vom Alten St. Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg

1 Kommentar

Kommentieren →

Schreibe einen Kommentar