Überall, wo ich hinkomme, besuche ich den Friedhof. Warum ich das tue? Weil mich Friedhöfe anziehen. Ich mag die Stimmung. Hier bin ich unter vielen Menschen, ohne Stimmengewirr, Geschrei oder Gelächter. Das ist einmalig. Es sind Orte der Ruhe und Besinnlichkeit. Einer der ganz wenigen Rückzugsorte innerhalb der brausenden Stadt. Ohne Hunde, deren Kot und Fahrzeuge.
Niemals ist ein Friedhof für mich ein Ort, an dem ich Angst habe, der bedrohlich wirkt. Es kann mystische, zauberhafte Momente geben, bei trübem Licht im November beispielsweise. Wenn der Wind in den Blättern der alten Bäume rauscht, ist das wie das Wispern der Stimmen derer, die hier liegen.
Meine Fantasie wird angeregt von den alten Steinen, Inschriften und Statuen. Ich denke mir Geschichten aus. Ich stelle mir bei jedem Grab, das ich näher betrachte, vor, was für ein Leben, der
Mensch, der hier begraben liegt, wohl geführt haben mag. Welche Ereignisse haben sein Leben geprägt? War es ein liebevoller Mensch? Was zeichnete ihn aus? Woran mag die Person gestorben sein? Was war das Wichtigste in ihrem Leben? Wer denkt heute noch an sie? Ist die Pracht des Grabes relativ zum menschlichen Wert des darin Begrabenen oder nur Ausdruck der finanziellen Möglichkeiten seiner Familie? Wie war dieses Leben vor 80, 100 oder 150 Jahren? Was waren damals die Sorgen oder die Freuden der Menschen? War das anders als heute?
Wie wir unsere Trauer zum Ausdruck bringen, hat sich über die Jahrhunderte verändert.
Beeindruckende Familiengruften mit aufwendigen Figuren, Reliefs und Goldschrift leistet sich heute kaum mehr jemand.
Erdbestattungen sind in der Minderheit. Schlichte Steine oder Kreuze werden bevorzugt. Oftmals wünschen wir uns heute eine anonyme Bestattung. Kaum mehr ein Sinnspruch ist auf den modernen Gräbern zu finden. Aus unserer Bestattungskultur Individuelles abzuleiten, wird
Friedhofsbesuchern in 100 Jahren schwerfallen. Was werden sie über uns denken?
Auch in der Gründerzeit oder davor waren es die reichen Leute, die sich aufwendige Beisetzungen leisten konnten. Sie haben sich selbst Denkmale gesetzt.
Die ganz Großen (oder die, die wir gemeinhin dafür halten), wurden in den Geschichtsbüchern verewigt.
Was passiert mit allen Anderen? Sie werden wohl vergessen, von ihnen bleibt keine Spur. Sie verschwinden in den Tiefen der Zeit. Das kann auch tröstlich sein, denn auch das Böse, das sie in die Welt gesetzt haben mögen, versinkt in der Vergangenheit.
Das vergessene Totenhaus vom Alten St. Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg:
Friedhöfe sind für mich auch ein Ort der Dankbarkeit, dass ich heute und jetzt leben darf und die Schönheit dessen, was die Natur und die Menschen hervorgebracht haben, bewundern kann.
Manche Menschen gehen Wald baden. Ich komme zur Ruhe, wenn ich Friedhöfe besuche. Sie wirken auf mich inspirierend und friedlich.
Fotos und Text: Birgit Helmlinger im April 2024
Alle Fotos vom Alten St. Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg
1 Kommentar
Kommentieren →Wunderschöne Bilder sind das!
Ich mag alte Friedhöfe, da ist die Magie, die dort herrscht,
fast spürbar!
Liebe Grüße aus dem Mausloch
Sabine