Die Bahnhofstraße in Lichtenrade ist jeden Tag ein Grund zum Ärgern, seit sie eine Baustelle ist. Darüber ist alles gesagt und wird täglich in den sozialen Medien wiederholt. Das soll nicht mein Thema sein.
Ich stelle mir die Frage, ob man auch auf einer Baustelle Schönes entdecken kann. Gibt es hier irgendeine Sache, die mich lächeln lässt? Möchten wir uns nicht alle jeden Tag über etwas freuen? Ich schon!
Freude liegt, meiner Erfahrung nach, im Auge des Betrachters, genau wie die Schönheit. Es sind die Kleinigkeiten, die gesehen werden wollen, um unser Herz höher schlagen zu lassen.
Ich mache mich auf, um die Schönheit auf der Baustelle zu entdecken: eine ausgefallene Form, schöne Farben, Strukturen oder Natur, die sich nicht unterkriegen lässt.
Ich bin gespannt, was mich erwartet.
Nie fiel mir die Buntheit der Tankstelle mit ihrem korrespondierenden Rot auf. Das signalisiert mir Fröhlichkeit.
Vorher unbemerkt geblieben war mir das Gras, das sich seinen Weg durch den Asphalt gebahnt hat und direkt neben einer Straßenschildhalterung aus dem Boden wächst.
Auch die Baumaschine, die mit entsprechender Bearbeitung zum Stück fürs Technikmuseum wird, hat das gewisse Etwas, oder?
Helles Buchengrün, das mit dem dunklen Efeu vor der weißen Betonwand leuchtet, ist ein Augenschmaus.
Die Kornelkirschenblüte, die sich auf die Ligusterhecke legt, wird dadurch zur botanischen Kuriosität.
Das orange Licht einer Blinklichtanlage ist durch die Korrespondenz mit dem Lindenzweig im Vordergrund zu farblicher Schönheit avanciert.
Das alte Postgebäude wirkt durch seine architektonische Sachlichkeit und warme Farben. Die leeren Briefkästen erinnern an bessere Zeiten.
Das Greiskraut und die Pusteblume haben sich einen neuen Lebensraum auf der unbefestigten Straße erobert. Sie genießen die Sonnenstrahlen – hinter der Absperrung.
Der stehende blaue Kleinbagger ist Symbol gewordener Stillstand auf der ungeliebten Baustelle im Herzen von Lichtenrade.
Ein blühender Birnbaum reckt stolz seine prächtigen Blüten in den blauen Frühlingshimmel und wirkt auf mich wie gemalt.
Der Fahrradständer neben der Volksbank wird, bei genauerer Betrachtung, ebenso wie der Wasseranschluss der Feuerwehr zur modernen Kunst. Der eine wirkt durch seine Form, der andere durch seine signalrote Farbe.
Beim Blumenladen stoße ich auf die Farbexplosion der Frühblüher und eine Biene nimmt, fleißig Pollen sammelnd, das freundliche Angebot der Blüten an.
Selbst zwei unscheinbare Abwasserrohre nebenan werden zur Augenweide, wenn man den richtigen Blickwinkel einnimmt.
Ein Graffiti blitzt an einem Haussockel auf; Efeu wächst auf Wellblech zwischen Kabelbinder, Zaun und Stacheldraht. Er zeugt einmal mehr von der Lebenskraft der Natur.
Die Klimaanlage eines Supermarktes erinnert mich an einen überdimensionierten Dampfdrucktopf und die Parkplatzschranke sticht mir durch ihr knalliges Rot ins Auge.
Die Poller an der Ecke zur Steinstraße werfen kurze Schatten und erinnern mich daran, dass es Zeit zum Mittagessen ist.
Mit dem Blick auf die Bushaltestelle kurz vor dem S-Bahnhof beende ich meinen Schönheitsrundgang rund um die berühmteste Baustelle in meinem Kiez.
Ich bin zufrieden mit meinen Fundstücken und freue mich, kleine Glücksmomente fotografisch festgehalten zu haben.
Bilder und Text: Birgit Helmlinger im April 2024