Schreibwerkstatt: Die große Liebe (6)

„Dein Dank an deinen Poeten ist wie ein edler Whiskey in mich geflossen, hat mich gewärmt und sich mir in seinen vielfältigen Nuancen offenbart, hat mich ein wenig beschwipst gemacht und vom Boden abgehoben.

Du hast von gemeinsamen Empfindungen gesprochen und unserem Vergnügen an der Literatur. Unsere Gedanken haben sich berührt und sind tief in uns eingedrungen und in wenigen Augenblicken schon so viel verändert. Sie haben uns auf eine Reise geschickt und Gefühle geweckt: Warten, Sehnsucht, Verständnis, Neugierde, Genuss und Lust. Was wir mit unserer Sprache alles bewirken können?

Du sprichst von der Zeit. Doch da möchte ich dir widersprechen

Zeit, diese verfügbare, dehnbare Masse, wird erst durch uns zu einer bestimmenden Größe. Ich habe immer Zeit, wenn ich sie brauche. Ich habe nie Zeit, wenn ich sie nicht brauche. Meine Gedanken, die Gefühle, noch mehr meine Sehnsüchte und vor allem meine Leidenschaft – sie bestimmen meine Zeit. Sie prägen sie, sie beherrschen sie. Nichts kann mich aufhalten, wenn ich etwas wirklich will, nichts mich zurückhalten, nichts mich bremsen. Zeit ist dann bedeutungslos.

Zeit wird für mich zum Problem, wenn ich sie im Überfluss habe oder sie anderen zur Verfügung stelle – Freunden und Bekannten, Hinz und Kunz, dem Fernsehprogramm, der Langeweile. Denn sie reißen sich meine Zeit unter den Nagel, verfügen über mich und ich kann nicht mehr meinem Herzen, meinen Gedanken, meinen Wünschen folgen.

Du hast recht – nicht richtig gelebt zu haben, das wäre Sünde

Du hättest dein einziges Talent, dein Leben, verschleudert. Du hättest dein Talent anderen zur Verfügung gestellt: zum Verbrauchen, zum Beschmutzen, zum Vergessen. Du wärst deiner Selbst entledigt, entpersönlicht, verschwendet. Deshalb lebe! Hier, jetzt, heute – atemlos, nachdenklich, besinnlich, ruhig oder schnell. LEBE! Nimm dich wichtig, denn keiner wird es so gut meinen wie du. Suche dich im Alltäglichen wie im Besonderen. Finde dich im Großen wie im Kleinen. Dann lebst du. Aber ich glaube, das alles muss ich dir nicht sagen. Du lebst.

Auch ich habe mich entschlossen – irgendwann einmal, es war der größte Entschluss meines Lebens – zu leben: Die Luft einzuatmen, ganz gleich, ob es sonnt oder schneit oder stürmt. Die Tiefen zu durchschreiten, um mich auf den Höhen für einen einzigen Moment göttlich fühlen zu dürfen. Den Schmerz genauso wie die Lust als meine Freunde zu betrachten, den seichten Pfad wie Höllenfeuer zu meiden.

Du wolltest wissen, wie ich zum Schreiben gekommen bin

Schreiben ist mein Beruf. Ich setze Wörter, beschreibe Vorgänge und charakterisiere Menschen. Fein abgewogen, sachlich und objektiv. Doch das ist nur die Vorderseite, die sichtbare. Ich habe noch eine andere Seite, die verborgene. Sie spielt gerne mit Worten, verschachtelt die Sätze und labt sich an Ausdrücken. Ich schiebe sie hin und her, versuche, meine Gedanken einzukleiden. Manchmal bekommen sie Festtagsgewänder, manchmal dürfen sie in schmutzigen, schmuddeligen Hosen auf die Straße. Ich beobachte sie dann mit diebischer Freude. Freue mich, wenn sie gefallen, wenn sie Anstoß erregen, wenn man mit ihnen streitet und sie verscheucht. Sie sind meine entlassenen Kinder, die sich zur Wehr setzen müssen.

Ich lege mich gerne ins Gras, schaue in den Himmel und kaue auf einem Grashalm.

Dann erfinde ich Geschichten, belebe Gedanken und verkleide sie

Es entstehen feenhafte Wesen mit ihren Träumen, mit ihren Leiden, mit ihrer Leidenschaft und Lust – sie verdichten sich, werden menschlich, menschlicher und manchmal unmenschlich. Sie bewegen sich durch Zeit und Raum, sie handeln mal edelmütig, mal grässlich und gemein. Sie werden selbständig, verselbständigen sich und nehmen manchmal sogar Besitz von mir. Ich muss mich nach ihnen richten, sie zwingen mich in ihren Bann. So verwandelt versuche ich sie in mir zu bewahren, ihnen Raum und Zeit zum Wachsen zu geben. Manchmal entpuppen sie sich als Aufschneider, die nach einigen Tagen verschwunden sind, in sich zusammenfallen, wie läppische, unscheinbare Wichte. Manchmal werden sie aber auch machtvoll, bekommen mehr Konturen, Gewicht und drängen sich magisch nach außen. Dann gebe ich ihnen eine Chance und kleide sie in kurze Geschichten ein – Merkposten für morgen oder übermorgen.

Das halbvolle Glas war leer, die Antwort viel länger als geplant. Es ging ihm gut, aber auf „Senden“ wollte er noch nicht drücken. Hatte er sich zu sehr vor dieser Frau entblößt, die er erst einmal gesehen hatte? Er legte sich auf sein Bett und schlief sofort ein.


Autor (Text und Bild): Raimund Bayer
Der Roman „Die große Liebe“ erscheint exklusiv für den Nachrichtendienst für Kunst und Kultur
Die gesammelten Werke des Autors: Website

Der Autor im Interview: Das zweite Leben als Autor und Genießer

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