Schreibwerkstatt: Die große Liebe (5)

Er erinnerte sich nicht mehr daran, so tief und fest geschlafen zu haben. Er hatte die ganze Nacht durchgeschlafen, hatte sich nicht hin und her gewälzt oder mit schmerzlichen Fragen beschäftigt, auf die er keine Antworten finden würde. Er war fit und wartete ungeduldig auf die ersten Anwendungen.  Noch mehr wartete er auf das Ende der Woche. Auf seinen letzten Tag hier in der Reha. Auf den Freitag. Die Tage verflogen im Nu. Und immer wieder der zehrende Impuls, noch einmal die Frau mit den schwarzen Augen und dem roten Mund zu sehen.

Zwischen Verantwortung und Leidenschaft: Marc sitzt zwischen beiden Stühlen

Er hatte bisher jeden Abend mit seiner Frau telefoniert. Sie versuchten, sich wechselseitig Mut zu machen. Sie sagte ihm immer wieder, dass er sich keine Sorgen machen müsste. Es sei alles in Ordnung und der Pflegedienst sei ausgezeichnet. Er sollte alles tun, um möglichst bald wieder bei ihr zu sein. Er versprach es, doch er wusste, dass sie ihre Situation beschönigte. Auch den Pflegedienst, den er schon mehrmals angerufen hatte, hatte ihm Mut gemacht. „Alles in Ordnung, kein neuer Schub.“ Doch heute Abend konnte er seine Frau nicht erreichen. Auch nicht den Pflegedienst. Was war los, fragte er sich.

Er konnte im Moment nichts mehr erreichen. Und morgen war sein letzter Tag. Er hatte seinen Koffer schon gepackt. Das Taxi würde ihn um 14.00 Uhr abholen, dann würde er mit dem Zug zurückfahren. Zurück zu Hanna, seiner Frau.

Er legte sich auf sein Bett. Nur mit Unterwäsche bekleidet und schloss die Augen. Da vibrierte sein Handy.

Sana schreibt: Wie geht es meinem Poeten?

Eine Textnachricht ploppte auf und stürzte ihn ins Bodenlose: „Wie geht es meinem Poeten. Bist du schon zuhause? Ich denk an dich.“ In seinem Kopf verschwammen die Gedanken und ein Sturm von Gefühlen überfluteten ihn. Er war nicht imstande zu reagieren, so zitterten seine Hände, als er das Handy weglegte.

Seine Gedanken schlugen Kapriolen, genau wie seine Gefühle. Er konnte sie nicht mehr kontrollieren. Er stand auf und öffnete das Fenster, um in die sternenklare Nacht zu schauen. So, als ob er von dort Hilfe erwarten könne.

Als er am Freitagabend in Berlin ankam, war sein Haus leer. Die Rollläden waren heruntergelassen. Die Haustür doppelt verschlossen. Nirgends brannte Licht. Er hatte es geahnt, nachdem er den ganzen Tag keinen Kontakt bekommen hatte. Weder zu ihr noch zum Pflegedienst. Er hatte geflucht und fluchte wieder, als er das Haus aufschloss und durch die Zimmer streifte. Nichts. Nicht einmal ein Zettel oder sonst ein Hinweis. Vermutlich hatte seine Frau dafür gesorgt, dass der Pflegedienst sich nicht bei ihm meldete. Sie wollte ihn offenbar nicht beunruhigen, was sie jetzt umso mehr tat.

Er rief den Dienst an und bekam sofort die Pflegedienstleiterin. Er kannte und schätzte sie. Bisher konnte er sich immer auf sie verlassen.

Seine Frau ist nicht da. Was ist passiert?

„Frau Noetzel, meine Frau ist nicht zuhause. Was ist mit ihr?“

„Herr Eichinger, es tut mir leid. Ich verstehe, dass Sie wütend sind. Ihre Frau ist gestürzt und hat sich die Beckenknochen gebrochen. Sie liegt im Wenckebach-Krankenhaus. Sie hat uns verboten, Sie zu benachrichtigen und meint, dass Sie mit Ihrer eigenen Genesung genug zu tun hätten.“

Das war typisch Hanna, dachte er. Sie nahm mehr Rücksicht auf die anderen als auf sich. Trotz ihrer MS-Erkrankung schonte sie ihn. Er verabschiedete sich von Frau Noetzel und entschied, an diesem Abend nicht mehr ins Krankenhaus zu fahren.

Er holte einen Whiskey und schenkte sich ein. Dann packte er seinen Laptop aus. Mit großen Augen las er die Mail von Sana. Sollte er darauf antworten? Oder sollte er sie ignorieren und hier einen Schlussstrich ziehen? Er trank einen Schluck und drückte auf „Antworten“.


Autor (Text und Bild): Raimund Bayer
Der Roman „Die große Liebe“ erscheint exklusiv für den Nachrichtendienst für Kunst und Kultur
Die gesammelten Werke des Autors: Website

Der Autor im Interview: Das zweite Leben als Autor und Genießer

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