Aus: Mit 65 fängt ein neues Leben an.
Erinnern Sie sich an Ihre letzte Geburtstagsfeier mit Freunden? Das dürfte vielen schwerfallen. Mir auch. Wäre da nicht ein Gespräch gewesen, das mir heute noch durch den Kopf geht – die Begegnung mit Dr. Schneider. Die Geburtstagsfeier eines Freundes fand letzten Sommer auf einer Wiese statt. Ein Fass Bier, mehrere Weinbeutel, ein Grill und Kartoffelsalat dienten der Verköstigung. Jeder musste selbst mit anpacken. In diesen Zeiten dennoch ein wahres Freudenfest.
Ich hatte Dr. Schneider schon vergessen. Ein Small-Talk auf einer Party bei einem Glas Wein ist nicht wirklich eine Basis, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen oder ein Problem anzupacken. Doch ein paar Tage später rief mich seine Frau an.
Mein Man ist zutiefst unglücklich!
„Haben Sie am letzten Samstag auf der Geburtstagsfeier mit meinem Mann gesprochen?“, wollte sie mit leiser Stimme wissen, so als wäre sie sich noch nicht ganz sicher, ob sie überhaupt weiterreden sollte.
„Oh ja, wir haben uns eine ganze Weile unterhalten. Er hat mir von seinem Ruhestand erzählt. Nettes Gespräch.“
„Er hält viel von Ihnen. Sie sind der einzige Mensch, über den er zurzeit positiv redete. Ich glaube, Sie könnten ihm helfen.“
„Wobei soll ich ihm helfen?“, fragte ich vorsichtig, denn einiges war schlagartig wieder in meinem Gedächtnis.
„Ich weiß nicht, was er Ihnen alles gesagt hat. Aber mit Sicherheit hat er das Wichtigste verschwiegen. Mein Man ist zutiefst unglücklich. Er träumt von alten Zeiten, als er noch Geschäftsführer war und alle nach seiner Pfeife tanzten. Zu Hause fühlt er sich eingesperrt. Das Zusammenleben mit ihm ist schwierig geworden. Er findet keine Beschäftigung und Freunde hat er auch nicht mehr. Er ging wieder zurück in die Firma. Freiwillig, um zu helfen, wie er sagte. Seine Kollegen fanden ihn unmöglich, sodass seine Chefs ihn letzte Woche gebeten haben, nicht mehr zu kommen. Hat er Ihnen das auch gesagt? Jetzt sitzt er daheim und wird langsam depressiv. Schuld sind natürlich die anderen. Und er fühlt sich als das Opfer.“
Frau Schneider hatte sich so in Rage geredet, dass ich sie unterbrechen musste.
„Und Sie glauben, ich kann ihm helfen?“
„Ich weiß nicht, sprechen Sie mit ihm. Bitte!“
Dr. Schneider lebte in der Vergangenheit
Wir verabredeten uns am Lichtenrader Wäldchen. Er brauchte einige Anläufe, bis er sich öffnete. Nach diesen Gesprächen war mir klar, warum Dr. Schneider von seinen Freunden als „Kotzbrocken“ bezeichnet wurde. Dr. Schneider blendete die Gegenwart völlig aus, lebte in der Vergangenheit, die ein überdimensioniertes Gewicht in seiner Erinnerung einnahm und trauerte ihr nach. Da es ihm nicht gelang, Vergangenes zurückzuholen, versuchte er jedes Gespräch auf seine Vergangenheit zu fokussieren. Und verloren damit immer mehr Freunde. Etwas anderes interessierte ihn kaum, auch nicht das Zusammenleben mit seiner Frau. Er zog sich in sein Schneckenhaus zurück und verharrte dort einsam, verstört und depressiv.
Die wöchentlichen Spaziergänge brachten uns weiter, wenn auch langsam und oft sehr mühsam. Es dauerte lange bis er begriff, dass das Leben in der Vergangenheit sein Problem war. Genauso lange dauerte es, bis er verstand, dass er die beste Zeit seines Lebens, das Hier und Heute, vollständig verdrängte und dadurch verpasste.
Als ihm das bewusst war, stellten wir einen einfachen, aber effektiven Plan auf.
Der beste Tag deines Lebens ist heute und hier
Ich weiß. Dieser Satz klingt etwas abgedroschen, aber das heißt nicht, dass er nicht wahr ist. Ich bleibe dabei: Der beste Tag deines Lebens ist heute und hier.
Viele trauern den „guten alten Zeiten“ hinterher. Andere träumen von einer „besseren Zukunft“. Doch dabei vergessen sie den heutigen Tag bewusst und voller Freude zu leben. Gestern ist vorbei. Was morgen kommt wissen wir nicht. Deshalb ist heute die beste Zeit deines Lebens.
Nachdem wir so weit gekommen waren, wollten wir gemeinsam diese Erkenntnis konkretisieren. Wir einigen uns auf die folgenden Regeln:
- Wir starten den Tag mit einer Morgenroutine.
- Wir nehmen uns für jeden Tag eine überschaubare Aufgabe vor.
- Wir überprüfen am Abend unsere Ziele und sind dankbar für jeden schönen Tag.
- Wir freuen uns auf das Morgen.
- Wir binden unsere Familie, unsere Freunde und unser ganzes Umfeld in unser Glück ein.
Es waren oft unwirsche und trübe Tage in diesem Corona-Winter. Weder das Wetter noch die Menschen strahlten, doch unsere Gespräche hellten sie auf. Und diese Gespräche wirkten. Die Rückmeldungen seiner Frau hörten sich von Woche zu Woche besser an. Er hat es geschafft, die Sonne scheint wieder – für ihn und für mich.
Was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser? Schreiben Sie mir.
Autor und Bilder: Raimund Bayer
11. April 2021: ein Interview über Bücher, Genuss und andere Vorhaben
18. März 2021:
90 Tage – der Besuch bei Stefano /
Buchempfehlung: Verblendung, Verdammnis, Vergebung
26. Februar 2021: eine literarische und eine kulinarische Genussreise
1 Kommentar
Kommentieren →[…] Autor: Raimund Bayer […]