Dr. Ulrike Stutzky: Zeiten des Lichts und Zeiten der Finsternis im Mittelalter

Ulrike Stutzky ist Historikerin. Im vorliegenden Artikel schreibt sie über die Zeiten des Lichts und die Zeiten der Finsternis im Mittelalter und zieht unter manchen Mythen einen Schlussstrich.

Mit dem November hat nun auch die finstere Jahreszeit bei uns Einzug gehalten. Früh wird es wieder dunkel, in den Stuben erstrahlen vermehrt Kerzen und trotz Energiekrise wird auch in den Straßen und Schaufenstern schon bald weihnachtlicher Lichterschmuck seine Schatten vorauswerfen.

Bei der ganzen Pracht adventlichen Blinkens und Glitzerns von herbstlicher Düsternis zu reden, ist zumindest im innerstädtischen Bereich oft nicht nachvollziehbar.

Dennoch empfinden die meisten von uns jene Monate, die vor uns liegen, als düster und finster, und nicht wenigen droht ein Herbstblues, der zu einer heftigen Winterdepression heranwachsen kann.

Wie bedrückend kommt dann jedoch die Vorstellung eines ganzen düsteren Zeitalters daher, um genau zu sein: 1000 düstere Jahre?

Wie beängstigend war das Mittelalter wirklich?

Grauenerregend und beängstigend erscheint uns das Leben im Mittelalter. Das Mittelalter als finstere Epoche, in der wilde Krieger mit langen Bärten und martialischen Waffen Gewalt und Schrecken verbreiteten? Eine Welt voller geheimnisvoller Kräuterfrauen, heidnischen Zauberern und wütenden Rittern: irrational und rechtlos, voller Mystik und Aberglauben?

Zeiten des Lichts und Zeiten des Mittelalters. Burg Saaleck als Synonym für mittelalterliches Wirken. Dr. Ulrike Stutzky schreibt leidenschaftlich gern über das Mittelalter.
Burg Saaleck an der Saale, nahe Naumburg. Reisen sind für Ulrike Stutzky immer auch Gelegenheit, historische, vor allem aber mittelalterliche Stätten zu besichtigen. Reichlich Möglichkeiten dazu bot sich im vergangenen Jahr eine Fahrt nach Sachsen-Anhalt an die Saale. Naumburg und Halle standen dabei unter anderem auf dem Programm.

Dieses Bild ist schaurig schön. Es zieht unzählige Mittelalter-Fans seit Jahrzehnten in seinen Bann und wird gerne durch Fernsehserien und auf Larp-Events weiterverbreitet. Mit der historischen Wirklichkeit aber hat es nur wenig zu tun. Entworfen wurde es von den großen Denkern der Renaissance und der Aufklärung. Im 16. und 17. Jahrhundert wollten Philosophen und Künstler sich abgrenzen von den Denkschemata der 10 vorausgegangenen Jahrhunderte. Beseelt von ihrer Begeisterung für die Antike, für Schönheit und Ratio diskreditierten sie die Werke und Schriften des Mittelalters.

Die als glanzvoll interpretierte Antike sollte abgegrenzt werden von einer als barbarisch und rückständig, gewalttätig und rechtlosen Epoche: einer Zwischenzeit – medium aevum.

Dabei logen und fälschten sie, was das Zeug hält.

Mythen über das Mittelalter auf dem Prüfstand

Selbst ein großartiger Wissenschaftler wie Kopernikus, der das heliozentristische Weltbild begründete, unterstellte fälschlicherweise den mittelalterlichen Denkern, sie hätten geglaubt, die Erde sei eine Scheibe. In der Wissenschaft ist diese Lüge längst entlarvt worden. Leider gelang es den Historikern noch nicht, die mittelalterlichen Kirchenväter, Philosophen und Wissenschaftler zu rehabilitieren.

Im Mittelalter ging es nicht nur finster zu. In Zeiten des Lichts und in Zeiten der Finsternis im Mittelalter schreibt Dr. Ulrike Stutzky darüber. Hier: Figur des Evangelisten Johannes, von Tilman Riemenschneider, 1490 - 1492, Staatliche Museen zu Berlin
Figur des Evangelisten Johannes, von Tilman Riemenschneider, 1490 – 1492, Staatliche Museen zu Berlin

Auch andere Mythen über die angeblich so finstere Zeit machten in der Renaissance und während der Aufklärung die Runde. Angeblich drohten dem mittelalterlichen Menschen bereits für geringe Vergehen drakonische Strafen. Nur am Rande sei erwähnt, dass sich der Begriff vom athenischen Gesetzesreformer Drakon ableitet, der im 7. Jahrhundert vor Christus gewirkt hat.

Folter, Gewalt und Krieg hätten neben Hunger und Seuchen die Menschen zu einem ständigen Überlebenskampf gezwungen, den die meisten jedoch nicht bestanden hätten.

Blühende Landschaften auch schon im Mittelalter

Allein die Tatsache, dass es im 12. Jahrhundert zu einer Bevölkerungsexplosion kam, in deren Zuge weite Landstriche urbar gemacht worden sind, in der das Städtewesen florierte, Kunst und Wirtschaft einen Aufschwung erlebten und die Lebenserwartung auch der einfachen Menschen drastisch anstieg, erschüttert das Bild vom finsteren Mittelalter.

Ein Blick – oder auch mehrere – in mittelalterliche Rechtsbücher und Chroniken hilft ebenfalls, die Finsternis zu vertreiben.

Blutrache und Fehde werden als Zeugen gerne herangezogen, um die Barbarei mittelalterlichen Lebens zu beschreiben. Jedoch taugen sie nur bedingt. Denn Volksrechte und Kirchenvorschriften zielten seit dem Frühmittelalter darauf ab, diese brutalen Formen der Selbstjustiz durch Geldstrafen und Bußübungen einzudämmen. Als sich im Hochmittelalter die Leibesstrafen durchzusetzen begannen, verkündete die Kirche immer wieder besondere Friedenszeiten, an denen keine Gewalt und keine Blutrache aufkommen durfte. Diese gebotenen Frieden wurden seit dem 12. Jahrhundert dann auch von den weltlichen Herrschern wiederholt verkündet.

Im Schutz der Madonna war so manches gedeihlich - in Zeiten des Lichts wie in Zeiten der Finsternis.
Madonna mit dem Schutzmantel des Michel Erhart, 1480, Staatliche Museen zu Berlin

Das Mittelalter hat blutige Kriege, Gewalt und Intoleranz zuhauf gesehen. Leidtragende waren meist das einfache Volk und unbeteiligte Bauern, während man innerhalb der höheren Schichten behutsamer miteinander umging, wie der renommierte Historiker Gerd Althoff erklärt.

Gewalt wurde auch im Mittelalter geächtet

Dennoch sollte den Menschen jener Epoche nicht ausnahmslos Rückständigkeit, Ignoranz und Brutalität unterstellt werden. Gewalt wurde auch im Mittelalter von vielen Menschen unterschiedlicher Stände geächtet.

Zahllose Beispiele einer mittelalterlichen Friedenssehnsucht sind in der Literatur, Kunst und auch den Gesetzesbüchern erhalten. Höfische Zucht und Eleganz wurde in ritterlichen Kreisen seit dem 12. Jahrhundert zum Maßstab, um ungehobeltes oder gar brutales Benehmen abzulegen.

Bildung galt seit der karolingischen Renaissance im 8. Jahrhundert als wertvolles Gut. In Klöstern wurden die antiken Schriften studiert – und das nicht nur, um sich in der lateinischen Sprache zu üben. Im 14. Jahrhundert kommt es schließlich zum Bildungsboom. Universitäten werden in europäischen Städten gegründet – von Bologna bis nach Kopenhagen, von Lissabon bis nach Krakau.

Zu den Bildern: Die Stifterfiguren des Naumburger Doms, gefertigt in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Sie gelten als berühmteste und schönste Darstellungen des hochmittelalterlichen höfischen Ideals.

„In der ganzen Weltgeschichte rund um die Erde ist nirgends eine Phase von 1000 Jahren so diskriminiert worden wie das Mittelalter.“ Johannes Fried.

Die Liste der Errungenschaften, des Fortschritts und der Rationalität im Mittelalter ließe sich noch verlängern. Es geht jedoch nicht darum, diese Epoche als Hort des Friedens zu verklären. Vorurteile und Klischees sollten aber vermieden werden. Dunkel war das Mittelalter höchstens im wörtlichen Sinne, denn die Möglichkeiten in den Wintermonaten Helligkeit in die Räume zu bekommen, waren begrenzt.

Zeiten des Lichts und Zeiten der Finsternis im Mittelalter. Kerzen waren im Mittelalter ein teurer Luxus.
Im Mittelalter war es eher dunkel als finster, denn Kerzen waren ein teurer Luxus.

Kerzen waren Luxus. Nur in großen Kathedralen und an den Höfen der Fürsten und Könige waren sie die Regel. Das einfache Volk wusste sich mit Kienspänen, Öllampen und Fackeln zu helfen. Strahlten ihre Lichter auch nicht so hell wie unsere heutige Weihnachtsbeleuchtung, so war es aber auch nicht völlig finster im Mittelalter, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne.


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