Trotz der Pfingstfeiertage und trotz Aprilwetters hat sich am 22. Mai 2021 ein Dutzend Menschen auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof am Mehringdamm zusammengefunden, um Rahel Levin Varnhagen zum 250. Geburtstag zu gedenken. Zu würdigen. Warum?
Rahel Varnhagen ist zwar als Saloniere berühmt, als hochgeschätzte Gastgeberin, der es gelang, in ihren Salons Menschen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen über selbst Standesgrenzen hinweg zusammenzuführen, aber das war nur die glänzende Oberfläche. Eine Gesamtausgabe ihrer Werke (und das sind vor allem Tausende Briefe, Aphorismen und Tagebuchaufzeichnungen) liegt in der Bundesrepublik erst seit diesem Jahr vor und die 1933 entstandene wegweisende Biographie von Hannah Ahrendt “Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin“ (bei ihrer deutschen Erstausgabe 1959 wollte der Lektor, ein ehemaliger SS-Obersturmbannführer, die Jüdin aus dem Titel gestrichen haben) erscheint erst jetzt in einer kritischen Neuausgabe.
Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein eitler Titel da!
Um den Blick hinter die glanzvolle Oberfläche zu lenken, möchte ich ein Zitat von Rahel voranstellen: „Weh’ dass unser Leben wegrinnt, ohne dass wir zusammenleben. Nur einmal konnte die Natur zwei solche zugleich leben lassen. Aber wir sind geschaffen, die Wahrheit in dieser Welt zu leben. Und auf verschiedenem Wege sind wir zu einem Punkt gelangt. Wir sind neben der menschlichen Gesellschaft. Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein eitler Titel da! Alle Lügen haben einen Titel. Die ewige Wahrheit, das richtige Leben und Fühlen, das sich unabgebrochen auf einfach tiefe Menschanlagen, auf die für uns zufassende Natur zurückführen lässt, hat keinen Titel! Und somit sind wir ausgeschlossen aus der Gesellschaft: Sie, die Sie sie beleidigen. (Ich gratulieren Ihnen dazu! so hatten Sie doch etwas, viele Tage der Lust!) Ich, weil ich nicht mit ihr sündigen und lügen kann.“ Dies schrieb Rahel an ihre Busenfreundin Pauline Wiesel, die Geliebte des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen.
Rahel war Jüdin und sie war eine Frau. Sie hatte das Glück einen vermögenden Vater zu haben, deshalb hatte sie keine materiellen Sorgen. Aber studieren durfte sie nicht, und einen Beruf ausüben oder ein Amt bekleiden erst recht nicht. Alles, was sie wusste, hat sie sich selbst beigebracht – und ihr Wissensdrang war enorm.
Dass sie als Jüdin immer nur geduldet war, aber nie gleichgestellt, das hat Rahel ihr Leben lang zu spüren bekommen.
Unterm Dach des elterlichen Hauses hat sie einen Salon eröffnet – das durften jüdische Frauen: Liebenswürdig sein und schön (aber schön war sie leider nicht) und geistreich auch, aber immer verbindlich-verbindend-versöhnlich. Und dass sie als Jüdin immer nur geduldet war, aber nie gleichgestellt, das hat Rahel ihr Leben lang zu spüren bekommen. Für sie war es eine ständige Kränkung, in einer feindlichen Gesellschaft zu leben, die einen zwingt, sich permanent zu legitimieren – aber den Schmerz darüber hat sie meist verschwiegen und es aufgegeben, den Kampf dagegen offensiv zu führen.
Rahel wollte dazugehören. Sie wollte anerkannt werden, entsprechend ihren großen Begabungen.
Sie war zweimal verliebt und verlobt: Das erste Mal mit dem Grafen Karl von Finckenstein, der nach langem Zögern sich doch für eine standesgemäße Heirat entschied.
Das zweite Mal mit dem spanischen Gesandtschaftssekretär Don Raphael D’Urquijo, der aus Eifersucht und Eitelkeit ihre Eigenständigkeit nicht ertragen konnte.
1809 lässt Rahel ihren Nachnamen ändern: Rahel Robert heißt sie jetzt und schreibt an einen ihrer Brüder: Der Jude muß aus uns ausgerottet werden, das ist heilig wahr, und sollte das Leben mitgehen.“
Aus ihren Erfahrungen zog Rahel den resignierten Schluss, die Kunst zu erlernen, nicht die Wahrheit zu sagen, sondern das eigene Leben als Schauspiel oder als Erzählung darzustellen. „Es ist besser, nur eine Anekdote zu sein als ein Mensch mit Eigenschaften.“
Mit über 40 endlich heiratet sie einen 14 Jahre jüngeren Mann
Schließlich, als sie schon über 40 war, heiratete sie 1814 einen 14 Jahre jüngeren Mann, der sie anerkannte und unterstützte, und der ihr mit seinem Adelstitel die Chance eröffnete, endlich Zugang zum preußisch-adligen Berlin zu finden – freilich um den Preis, ihr Jüdischsein abzustreifen und zum christlichen Glauben überzutreten. So konnte sie mit ihrem Mann zusammen noch einmal einen Salon eröffnen. Aber die „Schmach“ und das „Unglück“ ihrer jüdischen Geburt wurde sie nicht los. Denn es war die Zeit der triumphierenden Reaktion und auch des aufkeimenden Nationalismus (viele ihrer Freunde mauserten sich plötzlich zu Franzosenhassern) und der erstarkenden Judenfeindlichkeit – trotz des 1812 in Preußen erlassenen Judenedikts. Caroline Humboldt sprach ihre frühere Freundin Rahel in der Öffentlichkeit nun mit „Sie“ an, 1816 schrieb sie ihrem Ehemann Wilhelm von Humboldt, wenn es nach ihr ginge, dann wären „in 50 Jahren die Juden als Juden vertilgt.“ Und unser heute so gefeierter Humboldt antwortet ihr: „Deine Tirade über die Juden, teure Seele, ist göttlich.“ Begeistert teilt er ihr mit, Frh. vom Stein schlage vor, die Nordküste Afrikas mit den Juden zu bevölkern.
Gegen den Nationalismus war Rahel immun: „Dass wir Deutsche heißen und sind, ist eine Zufälligkeit; und die Aufblaserei, dies so groß hervortreten lassen zu wollen, wird mit einem Zerplatzen dieser Torheit endigen“, hoffte sie, als sie 1813 in den Wirren der Befreiungskriege nach Prag fliehen musste und dort verwundete Soldaten, auch Franzosen, unterstützte. Und sie schloss mit einer Prophezeiung, die bis heute unerfüllt blieb: „Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalstolz ebenso angesehen wird wie Eigenliebe und andere Eitelkeit. Und Krieg als Schlägerei.“
Man möge sich aneinander und miteinander im offenen Gespräch bilden, das war Rahel Varnhagens oberstes Ziel.
Rahels hohes Ziel war es, dass man sich aneinander, miteinander, im offenen Gespräch bilde. Zuhören und verstehen wollen, und die unterschiedlichsten Temperamente zur Geltung kommen lassen: Das war ihre Maxime. Und: selbst denken, kein fremden Meinungen als die eigene wiederkäuen!
Auch damals war das nur ein Ideal, gab es Klatsch und Tratsch, Eitelkeit, Missgunst, Sticheleien und Übereinander-Herziehen, von Standesgrenzen zu schweigen. Und 1819, nach den „Hep-Hep-Pogromen“, bei denen Juden überall verfolgt und misshandelt wurden,schrieb Rahel prophetische Worte an ihren Bruder: „Ich bin gränzenlos traurig und in einer Art wie ich es noch gar nicht war (…) Was soll diese Unzahl Vertriebener thun. Behalten wollen sie sie: aber zum Peinigen und Verachten, zum Juden mauschel schimpfen, zum kleinen dürftigen Schacher, zum Fußstoß und Treppenrunterwerfen. Die Gesinnung ist’s, die verwerfliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule, die mich so tief kränkt, bis zum herzerkaltensten Schreck. Ich kenne mein Land! Leider. Eine unselige Cassandra. Seit 3 Jahren sag’ ich: die Juden werden gestürmt werden: ich habe Zeugen.“
An den jungen Heine schrieb sie: „kein Vivat, keine Herablassung, keine gemischte Gesellschaft, kein neues Gesangbuch, kein bürgerlicher Stern, nichts, nichts konnte mich je beschwichtigen …“
Und auf ihrem Sterbebett erklärt sie: „Welche Geschichte! Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich. Mit erhabenem Entzücken denk‘ ich an diesen meinen Ursprung. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht‘ ich das jetzt missen.“
Autor und Beitragsbild (Foto: bpk / Staatsbibliothek zu Berlin): Gerhard Moses Heß, telefonisch erreichbar unter: 0163 / 34 17 053 und per E-Mail: Gerhard-Moses-Hess@web.de
Diese Niederschrift verfasste Gerhard Moses Heß für alle, die beim Friedhofsspaziergang am Samstag, den 22. Mai 2021, nicht dabei gewesen sein konnten.