Corona, die neue Pest?

Wiederholt sich Geschichte? Über diese Frage diskutieren die Gelehrten seit Generationen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Angesichts von Corona scheint jedoch in Zeitschriften, Wissenschaftsmagazinen und Geschichtsblogs dieser alte Streit nun zugunsten einer bejahenden Antwort entschieden.

Vergleiche zwischen der modernen Corona-Pandemie und der Pest des Mittelalters werden angestellt und eine beeindruckende Liste von Gemeinsamkeiten aufgezeigt. Vieles, was unseren Corona-Alltag prägt, gab es schon vor über 600 Jahren.

Sind wir verdammt, die Geschichte erneut zu durchleben? Werden wir dieselben Auswirkungen der Seuche erleiden wie die Menschen, die den Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts überstanden hatten?

„Wir wollen davon schweigen, dass ein Mitbürger den andern mied, dass der Nachbar fast nie den Nachbarn pflegte und die Verwandten einander selten oder nie besuchten.“

Diese Worte beschreiben nicht etwa corona-adäquates social distancing, sondern stammen von einem berühmten Kronzeugen der mittelalterlichen Pest, Giovanni Boccaccio. Er wird gerne zitiert bei Rückblicken auf die Pest des 14. Jahrhunderts, denn mit aller poetischen Wucht hat er als Zeitzeuge von den Schrecken erzählt, die der Schwarze Tod dem mittelalterlichen Europa brachte.

Stefan Lochner, Detail eines Altarflügels mit den Martyrien der Apostel, um 1435
Stefan Lochner, Detail eines Altarflügels mit den Martyrien der Apostel, um 1435

Mit der Seuche kamen die Rücksichtslosigkeit, Verrohung und schlechte Moral ans Tageslicht

Wie die anderen, nicht so prominenten Chronisten erzählt er von Rücksichtslosigkeit, Verrohung und dem Schwinden aller Moral und Sittlichkeit, offenbar zeitlose Phänomene, die der menschlichen Natur innewohnen und in Ausnahmesituationen gerne ans Tageslicht emporsteigen.

Das Verhältnis unter den Menschen verrohte, so dass ein Vater, wenn sein Sohn daniederlag, sich weigerte, bei ihm zu bleiben.“

Der moralische Niedergang ereilte aber auch Geistliche. Aus vielen Ländern sind Berichte über verwaiste Gemeinden überliefert. Unzählige Priester waren vor der Seuchengefahr geflohen – oder ihr bei der Ausübung ihres Berufs zum Opfer gefallen.

Bei den Berichten über sittliche Verkommenheit muss man jedoch bedenken, dass der verabscheuungswürdige Einzelfall oft die untadelige Mehrheit überstrahlt – und zwar in allen Zeiten, auch in unserer. Ebenso zeitlos ist das Lamentieren über die Verrohung der eigenen Epoche vor dem Hintergrund einer glänzenden Vergangenheit. Früher war halt schon immer alles besser. So ähneln sich die Sitten und Gebräuche der Menschen bis heute.

Die Quarantäne – eine Maßnahme so alt wie die Seuche selbst

Auch einige mittelalterliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche ähneln den heutigen. Italienische Städte wie Ragusa und Venedig verhängten bereits im 14. Jahrhundert Einreisebeschränkungen für Reisende und Kaufleute mit 40tägiger Isolation. Die 40, im Italienischen „quaranta“, hatte biblische Bezüge und war schließlich namensgebend für die noch heutige gängige Praxis der Quarantäne. Genua versperrte anlandenden Schiffen gewaltsam den Hafen und Mailand ließ kurzerhand die Pestkranken in ihren Häusern einmauern, verschloss die Stadttore und entging so dem Schwarzen Tod, nur um bei der nächsten Welle umso heftiger heimgesucht zu werden.

200 Jahre später fanden ähnliche Methoden auch in Berlin Anwendung. 1583 entschied der Rat der Stadt die Brücken ins benachbarte Cölln abzuriegeln und damit auch den Handel der beiden Teilstädte zu unterbinden –

„Damit beider Stedte Burger sonderlich aber die Inficirten zu den gesunden (…) nicht zusammen kommen konten.“

Quarantäne und Isolation – Maßnahmen, die so alt wie die Seuche selber sind. Jedoch erfolgten sie nicht, um Infektionsketten unter Kontrolle zu bekommen. Diese erahnte der mittelalterliche Mensch nicht einmal ansatzweise. Vielmehr wich man der unheimlichen, fremden und geheimnisvollen Gefahr lediglich aus, jedoch ohne sie zu begreifen. Andere Heilmittel waren der Aderlass, Brechmittel, in Rosenwasser oder Essig getränkte Tücher und zuallererst das Gebet. Denn wenn man auch nicht verstand, wie die Seuche übertragen wurde, als Ursache meinte man das göttliche Strafgericht erkannt zu haben. Zahlreiche Überlebende widmeten sich einem frommen Leben mit Pilgerreise, Heiligenkult und Selbstgeißelung, um kommende Strafgerichte abzuwenden.

Corona - die neue Pest? Was macht Corona mit der Pest vergleichbar?
Skulptur von (wahrscheinlich) Hans Kamensetzer, Geburt Christi, um 1470

Der Tod war allgegenwärtig

Nach der Seuche war vor der Seuche, das begriffen die Menschen nach den wiederholten Pestwellen ziemlich schnell. In zahlreichen Kunstwerken und Predigten riefen sie ihre Zeitgenossen dazu auf, sich des immer gegenwärtigen Todes bewusst zu sein.

Jederzeit könne er den Menschen in Form der Pest ereilen. Darauf musste man sich durch ein gottgefälliges Leben vorbereiten, denn nichts schreckte mehr als die Vorstellung, unvorbereitet zu sterben und vor den göttlichen Richter treten zu müssen. Ein Zeugnis dieser Erkenntnis stellen die Totentänze dar, Texte und Bilder, in denen zur Besinnung auf die eigene Sterblichkeit aufgerufen wird. Ein ganz besonderes Exemplar befindet sich in der Berliner Marienkirche am Alexanderplatz.

Corona - die neue Pest? Zu sehen ist die Marienkirche am Alexanderplatz.
Die Marienkirche am Alexanderplatz
Corona - die neue Pest? Was macht Corona mit der Pest vergleichbar?
Ausschnitt einer kolorierten Zeichnung des Totentanzfreskos der Marienkirche.

Die sozialen Folgen waren Prunksucht und Zügellosigkeit oder tiefe Depression

Wenn trotz aller Frömmigkeit der Schwarze Tod bald wieder vor den Stadttoren lauerte, war verständlicherweise die Verzweiflung groß. Andererseits wuchsen nach überstandener Pest die Prunksucht und Zügellosigkeit, wo weder Hoffnungslosigkeit noch Panik um sich griffen. Tiefe Depression oder Lebensfreude und die Gier nach Luxus angesichts der vergangenen Katastrophe: Diese beiden Seiten einer Medaille kennzeichnen die sogenannte Mentalitätskrise des Spätmittelaltes, die durch die Pest vielleicht nicht verursacht, aber sicher stark angeheizt worden ist.

Und es handelte sich dabei nicht um die einzige krisenhafte Erscheinung. Das Spätmittelalter war voll von Krisen: in Wirtschaft, Kirche und Staat kam es zu gewaltigen Umbrüchen, die oft mit Niedergang verbunden waren und nur wenigen Zeitgenossen die Chance für einen Neuanfang boten. Kriege mit modernen Feuerwaffen, Missernten und Teuerungen, ein Papst im französischen Exil und eine Geistlichkeit, die verstrickt war in politische Ränke, raubten den Menschen die Hoffnung, schon Jahre bevor die Pest Europa erreicht hatte. Die Seuche versetzte dem Menschen des Spätmittelalters lediglich einen weiteren grausamen, oft tödlichen Stoß. Viele waren überzeugt: Der Antichrist war gekommen und mit ihm das Ende der Welt.

Zu sehen ist Meister des Mornauer-Bildnisses, Porträt des Alexander Mornauer, um 1470 - 1480
Meister des Mornauer-Bildnisses, Porträt des Alexander Mornauer, um 1470 – 1480

Die wirtschaftliche Folgen zeigten sich in Landflucht, Verelendung und Verarmung

Und jeder Pestwelle folgten wiederum weitere Umwälzungen. Landflucht und Verelendung des Bauernstandes, Teuerung der Lebensmittelpreise bei gleichzeitigem Preisverfall des Getreides. Pfaffenhass und Verarmung des Adels, aber auch Blüte des städtischen Handwerks und der Zünfte. Die Liste der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Schwarzen Todes ließe sich um einiges fortsetzen.

Das Leid der wiederkehrenden Pestzüge dauerte sogar noch über die Reformationszeit und den Dreißigjährigen Krieg hinweg an. Menschenleere Landstriche verödeten. Ob ihre Bewohner der Seuche, marodierenden Raubrittern oder Soldaten des Kaisers zum Opfer gefallen waren, interessierte bald keinen mehr.

Endzeitstimmung griff um sich – damals wie heute

Zwischen 1626 und 1637 wütete die Pest immer wieder in Berlin und ließ verschiedene Häuser aussterben. Niemand kümmerte sich um die verlassenen Häuser und sie verfielen allmählich. Kurfürst Friedrich Wilhelm ordnete schließlich an, die wüsten Stellen innerhalb Berlins wieder aufzubauen. Obwohl er jedem Investor großzügige Privilegien versprach, dauerte es fast 100 Jahre, bis die Stadt wieder vollständig bebaut war. 1744 gab es noch immer wüste Stellen, davon berichtet 1881 der Historiker Kuntzemöller in seiner Chronik Spandaus.

Wo die Pest Einzug hielt, hinterließ sie Tod und Zerstörung.

Die Reaktionen der Menschen darauf erinnern in vielen Fällen an unsere Corona-Erfahrungen. Mit Abschottung, Isolation und Quarantäne sowie mit Masken und spezieller Schutzkleidung für Ärzte versuchten offizielle Stellen die Gefahr abzuwehren.

Gleichzeitig kamen im Volk nicht nur Endzeitängste, fromme Bußpraktiken, sowie ausgelassener Sittenverfall und Prunksucht auf, sondern auch Verschwörungstheorien und diffuse Sündenbock-Theorien. Berühmt-berüchtigt sind die Judenpogrome des Mittelalters. Als Brunnenvergifter verleumdet fielen tausende Menschen der Mordlust ihrer christlichen Nachbarn zum Opfer.

Heutzutage geraten bei Verschwörungstheoretikern wahlweise Bill Gates, Christian Drosten, feiernde Jugendliche, Asiaten oder barttragende Hipster in den Verdacht, die Corona-Pandemie zu befeuern. Auch ist die Zahl der antisemitischen Übergriffe wieder drastisch gestiegen. Die menschliche Natur scheint sich angesichts der Seuche während der Jahrhunderte kaum verändert zu haben.

Müssen wir also die eingangs gestellte Frage bejahen?

Sind wir dazu verdammt, die Geschichte zu wiederholen?

Die Antwort lautet eindeutig: Nein!

Auch wenn das menschliche Verhalten sich offensichtlich seit dem Mittelalter nicht sonderlich weiterentwickelt hat, so veränderten sich aber die Rahmenbedingungen. Die mittelalterliche Pest traf die Menschen in einer Krisenzeit, in einer Epoche des allgemeinen Umbruchs. Der Historiker Klaus Bergdolt beschrieb es folgendermaßen:

„Die fragile Gesellschaft war der existenziellen Herausforderung nicht gewachsen.“ Darin liegt unsere Chance. Wir leben in einem gefestigten demokratischen Staatswesen, im Wohlstand mit einer funktionierenden Wirtschaft. Nutzen wir diese Chance. Corona ist eine medizinische Herausforderung, die viel Leid und Tod über die Menschheit gebracht hat. Aber für eine gefestigte Gesellschaft kann sie nicht jene Sprengkraft einer Pest besitzen.


Übrigens, wer sich auf die Spuren der mittelalterlichen Pest in Berlin begeben möchte, dem sei die aktuelle Ausstellung „Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“ in der Gemäldegalerie am Kulturforum empfohlen (daraus das Titelbild und die Fotos 1,2,4) sowie die Totentanzdarstellung in der Marienkirche am Alexanderplatz. Leider ist das Fresko im Westturm der Kirche wegen Restaurierungsarbeiten nicht zu besichtigen. Ab 15. Juli ist auch die Dauerausstellung des Märkischen Museums wieder eröffnet, in der unter anderem die Nachbildung eines Pestarztes zu bestaunen ist.

Corona - die neue Pest? Die Autorin bespricht das Thema sehr ansprechend.
Ausstellung „Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“ in der Gemäldegalerie

Autorin Ulrike Stutzky

Text und Bilder: Dr. Ulrike Stutzky

Das Rad der Fortuna ist ein historischer Roman, den Ulrike Stutzky über das Leben in einer spätmittelalterlichen Stadt geschrieben hat.

Interview des Burgen Verlags mit Ulrike Stutzky: https://burgenweltverlag.de/stutzky-ulrike-2918-pest.html

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