Ghita aber, als sie vernahm, dass der späte Gast sich zur Tür wandte, um sich auf den Heimweg zu begeben, kreischte schrill durch die Diele und griff mit zittrigen Händen nach dem Gewand des Geistlichen.
„Herr, Ihr dürft da nicht hinaus. Nein, nicht raus ins Dunkel. Ihr findet da nur den Tod. Die bösen Dämonen sind da draußen. Stockdunkel ist’s. Geister, böse Geister. Spuk ist da, überall, in dieser Nacht!“
„Was redest du für ein gottloses Zeug? Willst du dich an unserem Herrn Jesus Christus versündigen mit deinem heidnischen Geschwätz?“
Der Priester Guiscardo schaute das Mädchen streng an.
„Das ist kein Geschwätz, das wisst Ihr genau. Der Herr stehe uns bei in dieser Nacht!“
Es ist die Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen
1. November des Jahres 1348. Die beschriebene Szene stammt aus dem historischen Roman „Das Rad der Fortuna“, in dem ich das Schicksal einer Krämerfamilie in Zeiten der mittelalterlichen Pest erzähle. Die Magd Ghita wird von jenen Ängsten gepeinigt, die im damaligen Volksglauben weit verbreitet waren.
Danach stiegen die „armen Seelen“ in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen aus dem Fegefeuer auf und durften sich erholen von all den Qualen, die sie dort erlitten hatten. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass die Seelen der Toten im Fegefeuer verharren mussten, bis beim Jüngsten Gericht entschieden wurde: Himmel oder Hölle.
Dieser christliche Volksglaube hatte durchaus heidnische Wurzeln
Zu Beginn des Winters begingen Germanen wie Kelten seit Urzeiten feierlich das Sterben der Natur, das Loslassen und Vergehen. Sie bereiteten sich auf den Winter vor, legten gemeinsam Vorräte an und verabredeten neue Gesetze. Schließlich umgab auch ein mythischer Zug diese Zeit. Am Samhain, einem Fest zwischen dem 31. Oktober und dem 11. November, stünden, so glaubten die Kelten, die Tore zur Anderswelt offen. Die Geister der Verstorbenen würden dann frei auf der Erde umherwandeln.
Diese abergläubischen Vorstellungen vermischten sich im Laufe der Zeit mit christlichem Brauchtum zum Volksglauben rund um Allerheiligen.
Mit Feuern und Masken versuchten die Menschen des Mittelalters sich, wie schon ihre heidnischen Vorfahren zuvor, vor den Geistern zu schützen.
Mit flatteriger Hand bekreuzigte sich die junge Magd
In ihren Augen standen Tränen. Verzweifelt fiel sie auf die Knie und umklammerte die Beine des Geistlichen. Sie fasste den Saum seines Gewandes und küsste ihn.
„Ich bitte Euch, aber in dieser Nacht drohen Spuk und Zauber in den Gassen. Überall tanzen die bösen Geister und Dämonen wild durch die Luft. Das wisst Ihr so gut wie jeder. Es ist die Nacht auf Seeltag. Gefahr droht überall den guten, frommen Christenmenschen, die es wagen, hinaus in die Gassen zu treten. Ich flehe Euch an, Herr, die bösen Geister toben draußen erbarmungslos. Dämonen. Sie werden Euch fangen und töten. Heilige Mutter Gottes steh uns bei!“
Der unter dem einfachen Volk weit verbreitete Glaube an umherwandernde Geister zu Allerheiligen kollidierte schon früh mit dem offiziellen kirchlichen Verständnis des Festes. Ursprünglich hatten die Kirchenoberen, allen voran Papst Gregor, den Feiertag begründet, um der unzähligen Heiligen angemessen zu gedenken.
Das christliche Fest neutralisierte den heidnischen Samhain
Die große Zahl christlicher Märtyrer und in ihrem makellosen Lebenswandel vorbildlicher Heiliger machte es unmöglich, jedem einzelnen mit einem eigenen Gedenktag zu huldigen. Schier unüberschaubar war das riesige Heer heiliger Frauen und Männer und die Gefahr groß, den einen oder anderen zu übersehen. Deshalb wurde der gemeinsame Gedenktag im 6. Jahrhundert eingeführt und im 9. Jahrhundert auf den 1. November datiert. Zahlreiche Historiker vermuten darin die Absicht, das christliche Hochfest auf das Datum des heidnischen Samhain zu legen und es damit zu neutralisieren.
998 ordnete der Abt Odilo noch einen weiteren Gedenktag für alle Verstorbenen ohne Heiligen-Status für den Folgetag an. Der Allerseelentag am 2. November war damit begründet.
Gebete und Besinnung auf die heiligen Vorbilder standen nach kirchlichem Verständnis somit am Beginn von Allerheiligen und in diesem Sinne argumentiert auch der Priester Guiscardo im Roman „Das Rad der Fortuna“:
„Ich vertraue der Macht unsres Herrn. Sie wird mich leiten und schützen vor allen bösen Geistern. Das solltest du auch tun, anstatt solch heidnischem Zeug anzuhängen. Jesus Christus steht über all den Geistern und Dämonen dieser Nacht. Er besiegt sie und wird uns leiten und beschützen, wenn wir fromm im Geiste sind.“
Damit drehte er sich ab und tauchte ein in die Dunkelheit dieser unheimlichen Nacht. Nur das fahle, zappelnde Licht seiner kleinen Laterne blieb noch für einige Augenblicke als ein kleiner heller Punkt zu erkennen.
Die Magd sah ihm nur kurz nach. Eilig verriegelte sie die Tür und sprach ängstlich ein Vaterunser. Dann hastete sie rasch zum Herdfeuer, um noch einige Scheite aufzulegen. Sie entfachte auch eine kleine Lampe, die jedoch nicht mit Öl gespeist wurde, sondern in die sie Tierfett und Butter tat.
Schließlich übernahm jedoch das Gedenken an die Verstorbenen, ursprünglich dem Fest Allerseelen am 2. November vorbehalten, sogar in Kirchenkreisen an Allerheiligen die Oberhand. Es wurden die Gräber geschmückt und gesegnet, wie es auch heute in katholischen Gemeinden noch Tradition ist. Gebete wurden gesprochen, die den Toten im Fegefeuer helfen sollten. Kinder und Arme erhielten spezielles Gebäck verteilt, die mit einem kurzen Dankesspruch ihrerseits auch Fürbitte für die Toten leisteten – ebenfalls ein Jahrhunderte alter Brauch, der noch heute in süddeutschen Gegenden lebendig ist.
Für die Toten wurden Speisen bereitgestellt und wärmende Feuerstellen angeheizt
Neben der spirituellen Hilfestellung durch Gebete, Almosen und Fürbitten leisteten die mittelalterlichen Menschen ihren Verstorbenen aber auch ganz praktische Unterstützung. Es wurden Speisen für sie bereitgestellt und wärmende Feuerstellen angeheizt, an denen sich die „armen Seelen“ wärmen und von ihrer kalten Pein des Fegefeuers erholen konnten. In diesem Sinne bereitet auch die junge Magd Ghita im Roman „Das Rad der Fortuna“ den „armen Seelen“ eine Unterkunft für die Nacht zu Allerseelen vor.
„Oh, ihr armen Seelen, steht uns bei. Kommt und kühlt hier eure Wunden. Ruht euch aus am Herd, ich lasse ihn für euch brennen.“
Geschäftig huschte das junge Mädchen durch die Küche. Sorgfältig schaute sie sich um, dass nicht Messer oder heiße Pfannen umher lagen, auf die sich die Toten versehentlich setzten könnten und so weitere Schmerzen erleiden müssten. Sie stellte auch eine Schüssel mit in Milch eingeweichten Brotkrumen bereit, an denen sich die Toten laben konnten.
Als alles zu ihrer Zufriedenheit hergerichtet war, begab auch sie sich zur Ruhe. Unter der Treppe, gleich neben der Küchentür, hatte sie sich einige Decken bereitgelegt, die ihr eine geziemende Bettstatt waren.
Allerheiligen wie auch Allerseelen zählen noch heute zu den Hochfesten der katholischen Kirche
Der 1. November ist in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Saarland gesetzlicher Feiertag. Wie schon in den Jahrhunderten zuvor steht das stille Gedenken an die Verstorbenen dabei im Mittelpunkt.
Das Gruselelement dagegen, das sich im Mittelalter aus heidnischer Tradition stammend mit christlichen Bräuchen zu Allerheiligen vermischt hatte, tritt heutzutage in Gestalt von Fratzenkürbissen, wilden Kinder-Partys und Geistern im Bettlaken als Halloween am Vorabend von Allerheiligen am 31. Oktober zutage.
Nachdem das Gruselspektakel im 19. Jahrhundert mit irischen Auswanderern in die USA gebracht worden war, schwappte Halloween Ende des 20. Jahrhunderts von dort nach Deutschland hinüber.
Einerseits kritisieren besonders Kirchenvertreter daran vor allem die Kommerzialisierung. Andererseits entwickelten sich Kostümhersteller, Süßwarenfabrikanten und Spielzeughändler in den letzten Jahrzehnten zu vehementen Verfechtern des Halloween-Hypes.
Angesichts der allgegenwärtigen orangefarbenen Halloween-Dekoration voller Monster, Zombies und Kürbisse drohen die christlichen Feste immer mehr zu verwässern: das katholische Allerheiligen am 1. November und der evangelische Reformationstag am 31. Oktober.
Ulrike Stutzky: Das Rad der Fortuna, Mittelalterroman
Bezugsquellen: Thalia und Amazon
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