Schreibwerkstatt: Die große Liebe (4)

Was bisher geschah: Seine Hände zitterten, als er das Tablett mit dem Frühstück auf seinen Platz stellte. Zwei Tage Nichtstun, zwei Tage warten. Auf was? Unter der Woche war er einem straffen Plan unterworfen. Er musste hierbleiben, während seine Frau ihn so dringend zu  Hause brauchte. Ihre Krankheit fesselte sie ans Bett …
Die Worte seines Stationsarztes hatten ihn wütend gemacht. Er hatte selbst gemerkt, wie schlecht es ihm ging, als sein Brustkorb wie Feuer brannte und er kaum noch Luft bekam …
Er brauchte dringend Zerstreuung. Irgendeine Abwechslung, die ihn von seinem Grübeln ablenkte. Das war hier an den Wochenenden nicht möglich. Er musste raus …
Er traf auf ein verwunschenes Haus und Tische voller Bücher und ein Paar Augen von höchster Gefahr. Meine Lider flatterten. Für einen Moment war mir schwindlig. Mir versagten die Beine den Dienst. Als ich wieder zu mir kam, sprachen wir von Büchern. Ihr Lieblingsbuch? Kein Buch für die schnelle Lektüre. Ich stand am Rand der Obsession. Seine erste E-Mail an sie entsteht und nimmt ihren Lauf …

Die Links dazu:

Kapitel 2 der Schreibwerkstatt: Die große Liebe (4)

E-Mail: Marc, du willst wissen, wie ich lese?

Ich lese mit all meinen Sinnen, mit dem Kopf, mit dem ganzen Körper – mit allem, was mir gehört. Gelesen vom Autor Raimund Bayer:

Ich lese mit all meinen Sinnen.

Ich lese wie ein Reisender, der den Weg sucht und in den Worten eine Karte findet und hinter den Worten die Topographie des Lebens: Berge und Täler, Höhen und Tiefen, Wüsten, Verwüstungen, Meere, Dschungel und liebliche Landschaften, Engen und Weiten – und darin wiederum die Entsprechung der Seelen – Topographie.

Ich lese auch mit dem Kopf.

Ich bemühe meinen Verstand, um dem Geschriebenen Sinn zu entnehmen.
Und der Kopf transportiert das Gelesene hinüber und hinunter und hinauf zu allen Ebenen meines Seins. Reiht es ein in die bereits vorhandenen Erfahrungen oder fügt es hinzu.
Manchmal hat es die Qualität des Neuen, noch nie dagewesenen (das sind Sternstunden), manchmal das eines Deja-Vu (das weckt Erinnerungen), manchmal die des immer schon Vertrauten (das ist wie Ankommen, wie Zuhause-Sein).

Ich lese mit meinem ganzen Körper.

Ich bekomme Herzklopfen, wenn mich die Spannung ergreift.
Ich lache, wenn der Humor des Autors meinen Kanal erreicht.
Ich lächele, wenn ich Freude empfinde.
Ich weine, wenn ich ein Schicksal nachfühle.
Ich bin erregt, wenn Worte, heiß und zitternd wie sprudelnde Lava mich überschwemmen.
Ich lese mit Gefühl. Oder ist es umgekehrt: Wecken die Worte erst mein Gefühl? Worte, so schön wie Gemälde!
Sätze, die Bilder voller Leben zeichnen.
Geschichten, die anrühren und bewegen und das Herz dehnen und füllen mit unbändiger Freude.
Bücher, die Spuren hinterlassen, die mich geöffnet haben, die mich bereichert haben, die mich verändert haben, die mich inspiriert haben.

Er las diese Sätze laut vor. Immer wieder! Er schien sich daran zu berauschen. Dann warf er einen letzten Blick auf die Gedanken und schickte die Mail zurück. Zurück an Sana, die er nach dieser Begegnung nie wieder vergessen würde. Das wusste er.

E-Mail: Sana, dein Name ist wie Poesie

Liebe Sana,

schon dein Name klingt wie Poesie. Er klingt im Inneren nach, versetzt Gedanken in Schwingungen und lässt ahnen, dass der Mensch, zu dem er gehört, das Leben mit all seinen Sinnen aufnimmt und in sich weiterschwingen lässt.

Verzeih mir diese sehr persönliche Anmerkung: Als ich deine Gedanken beim Lesen nachvollzogen hatte, fühlte ich mich dir sehr nahe. Ich bin mit dir gegangen auf deinem Weg in die Topographie der Seele – des Fühlens, des Denkens – des Lebens!

Auch ich sehe in den Büchern kostbare Schätze, die man über Generationen, Grenzen und Gesellschaften hinweg als Geschenk erhält, um es zu nutzen, sich daran zu erfreuen, daraus seine Lehren zu ziehen, damit zu leben, zu fühlen, zu lachen und zu weinen.

Bücher kehren mein Innerstes nach außen

Bücher sind meine Begleiter. Sie bringen mich zum Lachen, wenn ich glücklich bin. Sie trösten mich, wenn ich weinen muss. Sie geben mir Kraft, wenn ich müde bin. Und sie ermahnen mich, wenn ich mich zu verlieren drohe. Ich erlaube ihnen, ganz in mich einzudringen, mich anzurühren, mich zu kritisieren, mit meinen Gefühlen zu spielen, mich zu ermahnen, mich zu beschämen. Ich erlaube mir, sie würdevoll wie ein kostbares Gut zu behandeln, sie zu schmähen, sie auszulachen, sie zu kritisieren, sie in die Ecke zu werfen.

Bücherlesen ist wie ein Rausch

Ich verstecke mich in den handelnden Personen, treibe mein eigenes Spiel darin, werde Teil von ihnen, treibe die Geschichte nach meiner Fantasie voran, komme manchmal zu einem eigenen Schluss oder spinne ihn weiter – tagelang, monatelang manchmal. Ich erfinde meine eigenen Geschichten, schreibe an meinem eigenen Roman.

Dann betrachte ich das Leben – mein Leben – wie diesen Roman. Schreibe an meiner persönlichen Lebensgeschichte und freue mich, wenn diese Geschichte lebendig wird. Wenn ich Held sein darf, wenn ich siegen kann, wenn ich mich wehre, kämpfe, leide, traurig und berührt bin. Manchmal quäle ich mich durch ein Buch – so wie im Leben – und finde dann endlich den Faden, den roten, den so wichtigen, der uns weiterführt, der uns hilft und zeigt, wohin es geht.

Ich erkenne mich in dir. Du bist wie ich

Bücher, wie liebevoll kann ich sie in den Arm nehmen, wie liebevoll kann ich über sie sprechen, wie liebevoll mich an ihnen reiben! Sie sind mir so unendlich wichtig. Jedes Mal freue ich mich auf einen neuen Liebling. Gehe gespannt an ihn heran, gebe ihm Zeit, sich mit mir anzufreunden, versuche seine Ecken und Kanten zu entdecken, gehe auf Distanz, um ihn besser ergründen zu können.

Hat er mich gefangen, dann kann ich ihn nicht mehr loslassen, gehe mit ihm durch die Zeit, fasse ihn so oft wie möglich an, streichle seine Seiten und verfalle seinen Gedanken und Gefühlen. Wenn er mich kalt lässt, stelle ich ihn in die Ecke und gönne ihm eine andere Liebe.

Ich verstehe jetzt, warum ein Blick genügt hat, um dir nahe zu sein. Es ist unsere gemeinsame Leidenschaft. Wir versetzen uns in Gedanken und Gefühle fremder Menschen. Wir leben mit ihnen, wir leiden mit ihnen, wir freuen uns mit ihnen. Ich erkenne mich in dir. Du bist wie ich.

Gedanken an die Wirklichkeit: Zuhause

Das Wochenende war vorbei. Schneller als er je geglaubt hatte. Und es war schön, unglaublich schön. Seine quälerischen Gedanken, seine Selbstvorwürfe und seine Schmerzen hatten sich in Luft aufgelöst. Er fühlte eine neue Kraft in sich. Und er wusste, dass er  auch die letzten Tage meistern würde.

Sein Plan für diese Woche war voll – übervoll. Körperliches Training, Untersuchungen und Vorträge wechselten sich ab. Er hatte oft nur wenige Minuten, um von einem Raum zum anderen zu gelangen. Doch jede Anwendung stärkte ihn, weckte neue Kräfte ihn ihm.

Sein Herz pochte laut in seinem Rhythmus. Sollte er noch einmal zu ihr gehen? Sollte er Sana noch einmal sehen? Ein zweites Mal? Ein letztes Mal? Er entschied sich dagegen. Diese Beziehung sollte sich nur auf der geistigen Ebene entwickeln und darauf beschränken. Seine Frau brauchte ihn und nichts und niemand sollte ihn davon abhalten, sich wie bisher um sie zu kümmern. Das schwor er sich.


Autor (Text und Bilder): Raimund Bayer
Der Roman „Die große Liebe“ erscheint exklusiv für den Nachrichtendienst für Kunst und Kultur
Die gesammelten Werke des Autors: Website

Der Autor im Interview: Das zweite Leben als Autor und Genießer

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