Schreibwerkstatt: Die große Liebe (3)

Was bisher geschah: Seine Hände zitterten, als er das Tablett mit dem Frühstück auf seinen Platz stellte. Zwei Tage Nichtstun, zwei Tage warten. Auf was? Unter der Woche war er einem straffen Plan unterworfen. Er musste hierbleiben, während seine Frau so dringend seine Hilfe brauchte. Ihre Krankheit fesselte sie ans Bett.
Die Worte seines Stationsarztes hatten ihn wütend gemacht. Er hatte selbst gemerkt, wie schlecht es ihm ging, als sein Brustkorb wie Feuer brannte und er kaum noch Luft bekam.
Er brauchte dringend Zerstreuung. Irgendeine Abwechslung, die ihn von seinem Grübeln ablenkte. Das war hier an den Wochenenden nicht möglich. Er musste raus.

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Ein Hexenhaus, dachte er und ging auf das bizarre Gebäude zu. Das mit Schindeln gedeckte Holzhaus stand ein paar Metern hinter den übrigen Häusern. Es schien – bis auf ein großes geschwungenes Glasfenster – vollständig aus Holz zu bestehen. Nichts an ihm war gerade, alles war verwunschen, urig und windschief. Die dicken Balken waren mit Lehm verfugt. Die kleinen Fenster waren unterschiedlich groß, einige rund, andere oval. Weil nichts zusammenpasste, passte alles zusammen. Er erinnerte sich nicht, ein solches Haus je gesehen zu haben. Die dunkle Farbe des Holzes verstärkte den Eindruck eines verwunschenen Hauses. Die Front war fast vollständig bedeckt mit Windspielen, Bildern, bunten Tüchern und Kalendern.

Ein verwunschenes Haus und Tische voller Bücher

Die Bücher lagen in Körben, standen an kleinen Holzskulpturen oder hingen auch mal an einem Seil und tanzten durch die Luft. Über allem prangte ein kunstvoll geschnitztes Schild mit bunten Lettern: „Sanas Kunstladen“.

Schreibwerkstatt: Die grosse Liebe (3). Das verwunschene Haus in der Ferne und die Tische voller Bücher.
Schreibwerkstatt: Die große Liebe (3). Das verwunschene Haus in der Ferne.

Noch immer stand er ein paar Meter von der schmalen Holztür entfernt. Er schaute wie hypnotisiert auf das Bild, das sich vor ihm aufgetan hatte. Er konnte sich nicht sattsehen. Die Bücher zogen ihn in ihren Bann. Er schlenderte auf sie zu, nahm einige in die Hand und betrachtete sie. Ein Bildband mit erotischen Zeichnungen faszinierte ihn. Er musste sich so darin vertieft haben, dass er die Frau nicht bemerkte, die auf ihn zugekommen war. „Darf ich Ihnen ein Buch empfehlen? Mein Lieblingsbuch.“

Augen von höchster Gefahr

Der Mann schaut in zwei große schwarze Augen, gerahmt von langem lockigem Haar, das wie dunkle Schokolade glänzte. Seine Lider flatterten. Es gelang ihm nur für Sekunden, den Blick zu halten. Dann schloss er die Augen und fühlte, wie sich seine Gedanken verabschiedeten und seine Beine weich wurden wie Butter. Als er seine Augen wieder öffnete, saß er auf einem Stuhl und sie kniete vor ihm.

„Wieder alles in Ordnung?“, wollte sie wissen und schaute ihn besorgt an.

„Ja, mir war für einen Moment schwindelig. Danke. Es muss die Hitze gewesen sein“, sagte er noch immer ein wenig benommen.

Sie holte ihm ein Glas Wasser und reichte es ihm. Er streckte ihr die Hände entgegen und trank es mit einem Male leer.

Probe-Lesung: Das Test-Publikum gibt Hinweise und Raimund Bayer hört aufmerksam zu.
Probe-Lesung: Das Test-Publikum gibt Hinweise und Raimund Bayer hört aufmerksam zu.

Jetzt sah er ihr Kleid. Ein blaues Sommerkleid mit bunten Kreisen und Symbolen. Der leicht durchsichtige Stoff zeigte die Konturen ihres Körpers und wirbelte bei jedem Schritt um ihre Beine. Um ihre Handgelenke trug sie lederne Kettchen mit Symbolen aus Steinen. Dann nickte er. „Ja, geben Sie mir Ihr Buch. Ihr Lieblingsbuch.“

Die Frau im bunten Sommerkleid ging in den Laden. Jetzt sah er sich die Auslagen an: Liebesromane, Esoterik und Bildbände, daneben Kinderbücher und teure Kunstbände. Eine seltsame Mischung, wie ein kleines Chaos, dachte er.

Ihr Lieblingsbuch? Ich bin gespannt

Er hätte sich vermutlich einen Thriller von Andreas Gruber geholt. Den ersten Band mit Maarten S. Sneijder und Sabine Nemez hatte er gelesen. Vor allem das Verhältnis der beiden Kommissare hatte ihm gefallen. Gruber hatte zwei irre Typen kreiert. Doch er glaubte nicht, dass diese Art von Lektüre hier zu kaufen sein würde. Worauf habe ich mich eingelassen, dachte er mit einem schiefen Lächeln. Haben mich die schwarzen Augen geblendet?

Ein wissendes Lächeln um den Mund. Zwischen Marc und der geheimnisvollen Fremden beginnt sich ein unsichtbares Band der Liebe zu knüpfen. Raimund Bayer bei der Probelesung.
Raimund Bayer bei der Probe-Lesung: Die große Liebe.

Sie kam zurück. In der Hand ein kunstvoll eingepacktes Buch. Eine weiße Schleife hielt das Papier mit den vielen Sommerblumen zusammen. Sie drückte es ihm in die Hand und strahlte ihn an. Jetzt konnte er wieder in ihre Augen schauen. Er war unmöglich, sich von diesem Blick zu lösen. Er vergaß, das Buch aus ihrer Hand zu nehmen. Sie bemerkte seine Verwirrung, nahm vorsichtig seine Hand und drückte ihm das Buch in seine Hand. Eine Berührung, die ihn elektrisierte. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Seine Augen flackerten wieder.

„Was kriegen Sie für das Buch?“, fragte er aufgeregt. Und versuchte, mit seiner Frage wieder klare Gedanken zu fassen.

„Es ist ein Leseexemplar. Und ich habe es schon gelesen. Neu würde es 19,80 kosten. Geben Sie mir, was Sie wollen“, lächelte sie ihn an.

Ausdrucksstarker Vortrag von Raimund Bayer. An dieser Textstelle geht es darum, dass sich zwischen Marc und der geheimnisvollen Fremden ein unsichtbares Band der Liebe zu knüpft.
Raimund Bayer beim gewohnt starken Ausdruck, wenn er liest.

Das Buch knüpft ein unsichtbares Band

Für einen Moment fühlte er sich wieder aus der Fassung geworfen. In seinem Kopf rauschte es. Dann holte er aus seiner Geldbörse einen Zwanzigeuroschein und gab ihn ihr.

„Werden Sie mir sagen, wie Ihnen das Buch gefallen hat?“

„Vielleicht“, antwortete er, um sich dann schnell zu verbessern. „Ja, wenn Sie es wünschen, gerne.“

„Sie würden mir eine große Freude machen. Ich habe Ihnen meine Karte beigelegt.“

Schreibwerkstatt: Die große Liebe. Überall blühende Rosen während die Geschichte entsteht.
Schreibwerkstatt: Die große Liebe. Überall blühende Rosen während die Geschichte entsteht.

Er nickte. Den Blick weiterhin auf sie gerichtet, ging er langsam zurück auf die Straße. Von dort ließ er sich treiben, ohne auf die Menschen, die Häuser und die blühende Natur zu achten. Er war noch immer gefangen von dieser Frau. Nach einer Weile kehrte er um. Er erreichte das Rehazentrum, ohne noch einmal einen Blick auf das verwunschene Haus geworfen zu haben.

Kein Buch für die schnelle Lektüre

In seinem Zimmer angelangt legte er das Buch auf seinen Schreibtisch. Und nahm es doch noch einmal in Augenschein. Ein Herzchen hielt die beiden Seiten des Geschenkpapiers zusammen. Die Sommerblumen lachten ihn an. Die Schleife war kunstvoll drapiert. Er zögerte. Sollte er es noch vor dem Mittag öffnen? Er entschied sich dagegen. Würde er es öffnen, bräuchte er Zeit, um es zu genießen.

Die Geschichten-Werkstatt: Die grosse Liebe. Ein Ort zum Genießen von Geschichten wie "Die große Liebe" von Hanns-Josef Ortheil.
Ein Ort wie geschaffen zum Schreiben großartiger Geschichten.

Als er zum Tisch kam, saßen seine drei Tischnachbarn längst auf ihren Plätzen. Leere Teller standen auf dem Tisch, die Männer unterhielten sich. „Dieser Laschet ist doch ’ne Lusche. Der hat doch keine Eier.“

„Und die Grünen? Die sind doch eine Gefahr für uns alle. Mit ihrem Klimascheiß werden sie alles zerstören, was wir uns mühsam aufgebaut haben. Arbeitsplätze ade, Wohlstand ade“, fügte er erbost hinzu, um dann noch einen drauf zu setzen, „dann doch lieber eine Lusche.“

„Und im Winter werden wir frieren. Wer kann sich dann noch Heizöl leisten? Oder in den Urlaub fliegen.“

Er löffelte seine Suppe. Sie schmeckte ihm nicht wie sonst, denn die Gespräche kotzten ihn an. Er ließ das Hauptgericht stehen und verabschiedete sich mit einem stummen Nicken. Die Männer schauten ihn verwundert an.

Der Beginn einer Obsession

Als er oben ankam, riss er das Papier auf und zerknüllte es. In der Hand hielt er „Die große Liebe“ von Hanns-Josef Ortheil. Er drehte es in seinen Händen. Das Cover beeindruckte ihn nicht. Doch der Klappentext elektrisierte ihn.

„Ein Roman der ganz großen Gefühle! Der Beginn einer Obsession: Zwei, die eigentlich mit beiden Beinen im Leben stehen, lernen sich an der italienischen Adria-Küste kennen und verfallen einander. Sie erkennen, dass sie füreinander geschaffen sind – eine Erfahrung, die keiner von beiden vorher gemacht hat. Zuerst langsam, dann mit rapid wachsender Intensität gehen sie ihren Wünschen nach und versuchen, ihre Liebe gegen alle inneren und äußeren Widerstände zu behaupten.“

Auf dem Boden lag eine Karte. „Sanas Kunstladen“, dahinter die Anschrift und handschriftlich eine Mailadresse. Er hob sie auf und steckte sie in seine Tasche.

Eine Nachricht an die geheimnisvolle Fremde

Dann begann er das Buch zu lesen. Bis zum Ende. Als er am Sonntagabend damit fertig war, legte er es weg und ging er an seinen Laptop und schrieb an Sanasan@gmx.de.

„Liebe geheimnisvolle Fremde. Du hast mich mit einem Blick überwältigt. Dein Lieblingsbuch „Die große Liebe“ ist wie DU: unergründlich, geheimnisvoll und bezaubernd. Ich kann meine Gedanken und Gefühle noch nicht formulieren. Es geht mir zu viel durch den Kopf, was ich noch nicht einordnen kann. Vielleicht hilfst du mir?“

PS: Das Thema „Liebe“ macht mich ein wenig unbeholfen. Ich bin kein Experte für dieses Thema oder dieses Genre. Ich fremdele ein wenig beim Lesen. Wie hast du das Buch gelesen?“

Marc

Er schickte die Mail weg.


Autor (Text und Bilder): Raimund Bayer
Der Roman „Die große Liebe“ erscheint exklusiv für den Nachrichtendienst für Kunst und Kultur
Die gesammelten Werke des Autors: Website

Der Autor im Interview: Das zweite Leben als Autor und Genießer

Bei der nächsten Ausgabe: online-Lesung

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